Und die junge Frau weiss, dass sie längst gefallen sind, «die ersten Steine eines gigantischen Dominos»
Eine Region ist im Ausnahmezustand. Der Zürichbergwald steht in Flammen, das Feuer «springt leichtfertig über Kronen», es kriecht, «vom Wind aufgepeitscht, unaufhaltsam hinunter in Richtung der von Rauch umhüllten Stadt, von der nur noch die Kirchtürme und die Kuppeln der Universität zu erkennen» sind. Das Unheil scheint unaufhaltsam – und mittendrin eine junge Frau, hochschwanger, allein, schutzlos, verschanzt in einem Haus, das eben noch Zuflucht war, bald aber auch Falle sein kann.
Die Dramatik in Seraina Koblers Debütroman «Regenschatten» entfaltet sich langsam. Die 1982 geborene, in Zürich lebende Autorin zeigt ihre Figuren zu Beginn in ganz normalen, unbeschwerten Alltagssituationen. Da ist die hippe Bar hinter dem Bahnhof, in der Drinks und Smalltalk den Abend begleiten, da gibt es den One-Night-Stand, dem später im alkoholschweren Kopf keine grosse Bedeutung beigemessen wird. Da ist aber auch diese unerträgliche Hitze, die in diesem Sommer herrscht und die es so in diesen Breitengraden «seit 1540» nicht mehr gab.
Flüsse trocknen aus, verdorrte Blätter fallen zur Unzeit, der spröde Boden zeigt Risse, das Wasser wird knapp. Die Bewohner retten sich in «klimatisierte Einkaufsläden» und erhalten vorsorglich Tabletten: falls es einen hitzebedingten Störfall in den umliegenden Atomkraftwerken geben sollte. Nur ein Funke in dieser Dürre genügt – und das Inferno bricht aus.
Die Stadt im Ausnahmezustand
Und auf einmal ist sie da, die Katastrophe. Im Kleinen zunächst: Die Frau spürt das wachsende Kind in sich. Soll sie abtreiben, soll sie es behalten? Doch es bleibt gar nicht viel Zeit für derartige Gewissensfragen, denn was sich da am Horizont abzeichnet, hat mehr als nur mit einem (ungeborenen) Leben zu tun. Zürich befindet sich im Ausnahmezustand, der Brand lodert in den Wäldern, bedroht die Tiere im Zoo, die Flammen züngeln nach der Stadt, schon gibt es Tote und Verletzte, Massenpanik, die Menschen fliehen in Schutzkeller. Jeder kämpft verzweifelt für sich, und die junge Frau wird in einer drastisch beschriebenen Szene ihr Kind inmitten dieses «Weltuntergangs» allein gebären. Ein neues Leben beginnt, während vom Himmel endlich langsam Tropfen fallen; dann ein Regenguss, der den Brand eindämmt. Die erschöpfte Mutter schaut auf das blutige Bündel Mensch in ihrem Arm: «Wechselnde Mienen huschen über ihr Gesicht, wie Wolken über windige See.»
Seraina Kobler versteht es durchaus, Spannung aufzubauen. Sprachlich unbekümmert, von der trügerischen Idylle kühn ins Bedrohliche übergehend, umschreibt sie Wechselbäder der Gefühle und setzt den friedlichen Bildern solche von zermürbender Aussichtslosigkeit entgegen. Das sehr persönliche Schicksal der jungen Frau verknüpft sich mit den Auswirkungen der Klimakatastrophe. Im Nachhinein wundert sie sich über die Sorglosigkeit, mit der auch sie selbst auf die Veränderungen («Die angesengte Birke vor dem Haus») reagierte: Niemand stellte die Veränderungen «in einen grösseren Zusammenhang. So ging das auch mit all den anderen Nachrichten, vorher und nachher, die sich rückblickend als Vorboten entpuppen sollten.»
Ein trügerischer Frühling
Kann man sagen, dass das gut ausgeht in «Regenschatten»? Sicherlich nicht. Zwar lässt Seraina Kobler im letzten Kapitel die junge Frau stolz ihr Töchterchen vorführen, wie es langsam das Laufen lernt und «Weidenröschen befühlt», die endlich wieder wachsen in gerade noch zerstörter Natur, wo sich zögernd Hummeln und Bienen hervorwagen, «die in den Blüten des verloren geglaubten Erdbeerspinats, dem pelzigen Löwenzahn und dem Brandmoos umherschwirren». Milde Frühlingsluft, lange nicht mehr geatmet.
Doch da bleibt eine Skepsis: «Etwas hat sich verschoben», heisst es nun. Und die junge Frau weiss, dass sie längst gefallen sind, «die ersten Steine eines gigantischen Dominos.»
Seraina Kobler: Regenschatten. Roman. Kommode-Verlag, Zürich 2020. 175 S., Fr. 24.90.
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