Eine Horrorvision voller Hoffnung
Anna und David lernen sich in einer Zürcher Bar kennen und verlieben sich. Coup de foudre, Liebestaumel. Das Problem: Sie ist schwanger, aber nicht von ihm. Als David es erfährt, verschwindet er von der Bildfläche, sie leidet. David kommt zurück, dann verschwindet er wieder. Seine Sensibilität, so wird bald klar, hängt mit einem Trauma zusammen, er hat seine Schwester an Krebs verloren. Auch Anna trägt schwer an ihrem seelischen Rucksack, in dem die Scheidung ihrer Eltern und eine einsame Kindheit stecken.
Doch weder Probleme noch Traumata – auch wenn sie so existenziell sind wie hier – machen ein Buch bereits zu Literatur. Der Plot dieser Binnenerzählung leuchtet zwar durchaus ein. Er ist es aber nicht, der dieses Début so besonders macht, dass man es in einem Zug durchliest wie in einem Sog. Was ist es dann? Es ist Koblers ganz eigener Ton. Er ist ruhig und einnehmend, und sie hat grosses Talent, Stimmungen zu vermitteln durch das präzise Beschreiben von Situationen.
Besonders atmosphärisch gestaltet ist die Rahmengeschichte. Anna versteckt sich mitten in einem Waldbrand allein in einem evakuierten Wohnhaus. Um sie herum der abgebrannte Wald, der unterirdisch noch immer glüht, hinter ihr Monate einer aufreibenden Liebesgeschichte. Wie in Heinrich von Kleists «Erdbeben in Chili» treten hier Idylle und Katastrophe, «locus amoenus» und «locus terribilis», ganz dicht nacheinander auf.
Es geht um die grossen Fragen. Ums Verlieben und Verlassen, um Geburt und Verlust. Trotz dieser Themen bleibt der Ton unaufgeregt, ohne je kalt zu sein: Seraina Kobler kann erzählen. Hinzu kommt ein ganz feiner Humor, der dann und wann aufflackert. Nicht zuletzt ist der Roman – er spielt in der Nähe der Jetztzeit – eine aufwühlende Auseinandersetzung mit der Klimaerwärmung. (Iris Meier)