Die Temperaturen steigen
Die Unruhe steigt in unseren Breitengraden. Der Berg beginnt zu bröckeln, die Wälder verdursten, in den Städten erhitzt sich die Atmosphäre nicht nur meteorologisch, auch emotional. Seraina Kobler schafft in ihrem literarischen Debüt Regenschatten eine Anspannung, die jederzeit kippen kann. Doch im April deutet für Anna noch nichts auf die Katastrophe hin. Sie fühlt sich beschwingt, seit sie David getroffen hat. Er ist eines Sonntags im Riviera aufgetaucht, einer Nachtbar für Kenner, wo sie arbeitet. Sie reden und trinken und rauchen, bis sie auf dem Sofa einschlafen. «Mehr ist nicht passiert, in dieser Nacht», erinnert sich Anna im November.
Ein paar Monate später bemerkt Anna, dass sie schwanger ist. Sie gerät ins Zweifeln. Soll sie das Kind behalten? Die Frage erhält besondere Dringlichkeit, weil sie weiss, dass David nicht der Vater ist, sondern dessen Freund Oskar. Bei einem einzigen Mal ist es passiert. Vorerst behält sie das für sich, wissend, dass dieser Umstand das Beziehungsdreieck bedroht. Wie sie es David schliesslich gesteht, geht er weg, kehrt wieder und entzieht sich schliesslich ganz. Es hat auch mit Davids eigener Geschichte zu tun, und seiner allzu früh verstorbenen Schwester. Anna bleibt allein zurück, um es mit ihrem Kind zu schaffen. Sie lässt sich auch von einer freundlichen Ärztin nicht umstimmen.
Der Roman verdichtet das Geschehen auf einen einzigen Tag im November, an dem Anna ohne Hilfe einer Hebamme eine Tochter zur Welt bringen wird. Stunde für Stunde erzählt sie in Rückblenden von sich und David, dessen Schwester, und von Oskar, um sich weiter in die Geschichte der eigenen Familie zu verästeln. Zugleich horcht sie mit wachen Antennen auf ihren Körper und beobachtet, was draussen im Quartier vor sich geht. Die Stadt ist von einer Hitzewelle erfasst worden, wie es noch keine gegeben hat. Aus dem Radio werden die Bewohner der Stadt gebeten, Ruhe zu bewahren. Flüge und Bahnverkehr sind eingestellt, die Luft ist dick und grau. Ein Feuersturm wütet am Zürichberg, versetzt die Stadt in Panik. Während die Zootiere in den Flammen umkommen, fliehen die Waldtiere in die Gärten der umliegenden Siedlungen. Aller Warnungen zum Trotz bleibt Anna in ihrer Wohnung.
Seraina Kobler verschränkt auf gekonnte Weise die Geschichte einer Frau und ihrer Schwangerschaft mit einer meteorologischen Ausnahmesituation, die Angst macht und die Zuversicht trübt. Mit Blick auf den kalifornischen Sommer 2020 mutet das Szenario bekannt an. Die Hitze ist jedoch nur eine äussere Begleiterscheinung, die Annas Mut und Willen zusätzlich auf die Probe stellt. Vom Fenster aus beobachtet sie, wie sogar die Wildschweine in den Gärten auftauchen. Solche Schilderungen sind eindrücklich beobachtet und erwecken eine klaustrophobische Beklommenheit, die auf die Erzählerin selbst übergreift. Anna ist hellwach in ihrer präzisen, feinnervigen Selbstbeobachtung, während sie unmittelbar und ohne Hilfe die Geburt erwartet.
«Alles ist Wechselwirkung», zitiert das Buch eingangs Alexander von Humboldt. An den Kipppunkten hänge alles zusammen, sagt Anna einmal, bei der Schwangerschaft wie bei der Klimakatastrophe. Über weite Strecken gelingt es Seraina Kobler, die unterschiedlichen Motive und Ebenen unangestrengt stimmig miteinander zu verknüpfen, bis das Unheil hereinbricht. Die feinfühlige Art überzeugt, mit der sie die Dinge in der Schwebe zu halten vermag und die Beziehungsgeschichte spürbar dicht, aber nicht bemüht und eng mit der meteorologischen Katastrophe verknüpft. Erst gegen Ende franst das Nebeneinander etwas aus und werden die Erzählfäden eilig verknotet. In einem Nachtrag ein Jahr später wandern Oskar und Anna mit ihrem Kind aus, während vom panischen Feuersturm bloss noch ein Appell ans ökologische Gewissen übrig bleibt. Alles wird gut, vielleicht.
Dieses abrupte Ende bringt die Komposition des Romans in leichte Schieflage. Andererseits gelingt es Seraina Kobler übers Ganze, eine Atmosphäre zu kreieren, die gerade angesichts der gegenwärtigen Situation überzeugt. Es ist wohl nur Zufall, dass im Buch einmal das Wort «Korona» auftaucht, in der Bedeutung einer planetarischen Atmosphäre. Der unvermittelte Einbruch einer Hitzewelle verbreitet Panik und macht, wie es einmal heisst, dass den Menschen «die Ereignisse seltsam irreal erscheinen, als hätte jemand plötzlich einen Film in ihre Köpfe geschaltet». Leise klingt darin unsere Gegenwart nach.