Corona: Brennglas für literarisches Erzählen

Die Pandemie verändert das literarische Erzählen: sie rückt bisher latente Themen in den Vordergrund; sie verändert literarische Formen; sie ist ein epochaler Einschnitt für die Weltliteratur. Das meinen zwei Autorinnen, ein Verleger und ein Literaturvermittler.

SDA Import erschienen hier.

Abstand halten. Desinfizieren. Maske tragen. Das Extrem: Shutdown. Der Beginn dieses Extremzustands in der Schweiz jährt sich zum ersten Mal. Was heisst das für das künstlerische Schaffen? Für das literarische Erzählen?

Lucien Leitess vom Unionsverlag sagt gegenüber der Nachrichtenagentur Keystone-SDA, jeder Roman, der in den Jahren 2020 und 2021 spielen werde, müsse seine Geschichte anders angehen. Das findet auch die Bündner Autorin Romana Ganzoni und hat deshalb ihren neuen Roman «Magdalenas Sünde» bewusst vor der Pandemie angesiedelt. Die aktuelle Situation passe einfach nicht zu ihrer Geschichte. «Erzählende Texte, die explizit 2020 und 2021 angesiedelt sind, werden nicht ignorieren können, dass überall Desinfektionsmittel angeboten wird.»

Wer derzeit schreibe und keinen Corona-Roman verfassen wolle, müsse die gegenwärtige Realität ausblenden, sagt die Zürcher Autorin Seraina Kobler. «Viele Schreibende halten sich ja beispielsweise gerne am Bahnhof oder im Restaurant auf, um Menschen zu beobachten. Daraus generieren sie Ideen. Zurzeit muss man aus der Erinnerung schöpfen oder eine neue literarische Welt erfinden, in die leere Züge oder verlassene Städte passen.»

Letztes Jahr erschien Koblers noch vor der Pandemie beendeter Debütroman «Regenschatten», der die Klimakrise geschickt mit dem Schicksal einer jungen Frau verbindet. Zurzeit schreibt sie an drei verschiedenen Projekten, darunter ein Roman, der an «Regenschatten» anknüpft, aber im Jahr 2060 spielt.

Für eine Zukunftssimulation sei das gerade eine spannende Zeit. «Die Pandemie hat unsere Vorstellungskraft beschleunigt und gezeigt, wie schnell sich alles ändern kann», sagt Kobler. «Masken im Alltag, Ausgangsbeschränkungen, überfüllte Spitäler, Lockdown... all das war in der Schweiz vor einem Jahr noch Sciencefiction.» Die Welt werde sich auch in den nächsten Jahren rasant verändern, zeigt sich die Autorin überzeugt. «Ich glaube, dass die Pandemie wie ein Brennglas wirkt: Sie zeigt Themen klarer, die vorher schon da waren. Sie macht zum Beispiel deutlich, dass wir von der Höher-Weiter-Schneller-Mentalität wegkommen müssen, wenn wir nicht in absehbarer Zeit in die nächste Wand rennen wollen.»

Sie sei gespannt, wie sich dieser «Brennglas-Effekt» in der Literatur niederschlagen werde. «Vielleicht kommen bald mehrere Entwicklungsromane auf den Markt. Schliesslich konnten wir uns jetzt ein Jahr lang wunderbar selber beobachten.» Vielleicht würden nun auch vermehrt Utopien geschrieben, sagt Seraina Kobler. «Die Literatur ist ja durchaus imstande, eine kollektive gesellschaftliche Vision zu kreieren.»

Sowohl in den Themen als auch in den Formen werde die Pandemie das literarische Erzählen beeinflussen, gibt sich auch Daniel Rothenbühler überzeugt. Auf keinen Fall solle man sich aber sofort den «Corona-Roman» herbeiwünschen wie damals nach dem Mauerfall den «Wenderoman», sagt der Literaturvermittler und Mitbegründer des Schweizerischen Literaturinstituts. Denn: «Literatur braucht Zeit.»

Dass plötzlich auch die Schweiz Teil eines globalen Ereignisses sei, werde sich auch auf die Literatur auswirken. «Seit den napoleonischen Kriegen sind wir zum ersten Mal wieder mittendrin und erleben dieselben Ängste wie Menschen weltweit. Das wird für das literarische Schreiben in diesem Land und darüber hinaus Folgen haben. Welche, lässt sich jetzt aber noch nicht sagen.» Klar sei nur, dass eine Welt aus den Fugen auch neue Formen des Schreibens brauche.

Vielleicht braucht eine erschütterte Welt auch neue Sehnsuchtsorte. Seit ein paar Jahren scheint ein solcher die Natur zu sein. Naturromane sind im Trend, etwa «Der Gesang der Flusskrebse» von Delia Owens oder «Zugvögel» von Charlotte McConaghy. Wird Nature Writing durch die Pandemie noch beliebter? «Ich denke, dass Naturromane eine Gegenbewegung zur Digitalisierung sind», sagt Seraina Kobler.

Der Verleger Lucien Leitess nennt es «einen epochalen Einschnitt», vor dem die Weltliteratur gerade stehe. «Dieser Einschnitt wird in der Literaturgeschichte weltweit ablesbar sein, wie einer dieser gigantischen Meteoritentreffer in der Erdgeschichte. Covid lässt nichts, niemanden, nirgends unberührt. Wir dürfen gespannt sein, was da auf uns zukommt.»*

*Dieser Text von Maria Künzli, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.

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