Arktische Hibiskusblüten

TEXT: MONIKA BETTSCHEN

«Die Stare kommen sonst immer im Herbst.» Ein Satz wie eine Warnung und durchdrungen von Wehmut darüber, dass Veränderungen eingesetzt haben, die sich vielleicht nie mehr umkehren lassen. Mit dieser kraftvollen Zeile beginnt «Regenschatten», der erste Roman der Autorin und Journalistin Seraina Kobler. Ihre Protagonistin Anna lebt in Zürich, dessen Aussenbezirke von schwelenden Bränden bedroht sind. Der Jetstream ist kollabiert: Es ist November, und noch immer ist es so heiss, dass die Menschen im See baden können. Die Klimaerwärmung ist mit dem letzten Schmelzwasser der Gletscher definitiv auch im Unterland angekommen. Doch der Umgang mit dieser neuen Realität ist von Kurzsichtigkeit und Sorglosigkeit geprägt. In der Arktis taut es? Geschäftstüchtige Gärtner bauen mittlerweile Hibiskusblüten auf Spitzbergen an, eine beliebte Zutat in Cocktails – so auch in der Bar, in der Anna arbeitet.

Bald stellt Anna, die sich mit ihrem Freund David eine Zukunft aufbauen möchte, fest, dass sie schwanger ist, aber von einem anderen Mann. Wenig später verschwindet David. Anna harrt allein in ihrer Wohnung aus und ist unsicher, ob sie in dieser feindlichen Umgebung bereit ist für ein Kind. Längst haben die Bewohner*innen ihres Quartiers den Appell der Behörden befolgt und die Häuser wegen der latenten Gefahr neuer Brände verlassen. Doch Anna bleibt. Hier fühlt sie sich sicher. Hier wird sie auf Davids Rückkehr hoffen. Und auf die Geburt ihres Kindes warten. Unsicherheit ist eine schmerzhafte Konstante in ihrem Leben; sie wird verstärkt durch die Klimakatastrophe.

Diese beiden Erzählebenen – das Private und das Universelle – bewegen sich synchron und treffen immer wieder mit einer sprachlich virtuosen Wucht aufeinander. Zum Beispiel, wenn Anna, die einige Semester Biologie studiert hat, mit einem Stethoskop in ihren Babybauch hineinhorcht: Lauschend denkt sie daran, dass eine Künstlerin Herzschlag­ähnliche Töne aus einem der tiefsten je gebohrten Löcher aufgezeichnet hat. Es ist eine Stelle, wo vor Millionen Jahren zwei Landmassen zusammengestossen sind. Immer wieder findet Seraina Kobler solche eindrücklichen Bilder, in denen Anna eine Verbindung zwischen dem ganz Kleinen und dem grossen Ganzen herstellt. Zwischen verschmelzenden Keimzellen und kollidierenden Kontinenten. Mit dem Wissen, dass in ihr ein Kind heranwächst, begreift Anna auch die Erde als einen gewaltigen lebendigen Organismus. Und ganz pragsamtbild zusammen, das auf die bevorstehende Katastrophe hindeutet.matische Wissenschaftlerin, fügt sie alte Zeitungsberichte, die sie im Keller ihres verlassenen Hauses findet, zu einem Ge

Dilemma in der Bäckerei

«Es ist problematisch, dass unsere Medien voller Meldungen sind, aber nur selten eine Einbettung stattfindet, um die grossen Zusammenhänge erkennen zu können», sagt Seraina Kobler im Telefongespräch. «Aber erst, wenn wir die Wechselwirkungen erkennen, können wir vielleicht noch etwas gegen den Klimawandel unternehmen. ‹Regenschatten› zu schreiben war für mich eine Möglichkeit, meinen eigenen Ängsten angesichts der Umweltzerstörung zu begegnen. Als Mutter von vier Kindern möchte ich optimistisch sein, aber gleichzeitig weiss ich durch meine langjährige Tätigkeit als Journalistin, dass wir Menschen an einem Scheideweg stehen», so Kobler. «Meine Protagonistin Anna kämpft mit einem Dilemma, das viele von uns kennen: Sie möchte sich in ihrem Alltag möglichst umweltfreundlich verhalten, aber das gestaltet sich oft schwierig.» Ein Beispiel dafür ist jene Szene, in der sich Anna in einer Bäckerei zwischen einem Kürbis­Quinoa­Brot und einem Walnussbrot entscheiden soll. Die steigende Nachfrage nach Quinoa, geht ihr durch den Kopf, gefährdet die traditionellen Anbaumethoden in den Anden. Die Protagonistin verliert sich in ethischen Fragen: Denn jeder Kaufentscheid hat seine Konsequenzen.

«Regenschatten» ist weder Öko­Thriller noch Science­Fiction, sondern ein vielschichtiger und hochaktueller Roman, der durch eine ganz eigene Balance zwischen Dramaturgie und Wissenschaft besticht. Das Buch fesselt mit eindringlicher Symbolik, einer empfindsamen Protagonistin und mit der subtil ansteigenden Spannung, die sich am Ende wie ein Gewittersturm entlädt. Und es gewährt uns einen Blick auf ein Szenario, wie es drohen könnte, sollte die Menschheit ihren Kurs nicht sehr schnell ändern.

Seraina Kobler: «Regenschatten», Kommode Verlag 2020

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«Eine Möglichkeit, wie sich die Dinge für einen kurzen Moment zusammenfügen könnten»