«Ein Leben ohne Sprache wäre das Ende»

PUBLIZIERT AM 14. OKTOBER 2020 VON MATTHIAS ZEHNDER

Das Fragebogeninterview über Mediennutzung – heute: Journalistin und Autorin Seraina Kobler. Sie sagt, in der Coronakrise habe sie «übermässigen Medienkonsum mit Wachsamkeit» verwechselt. Sie sehnt sich nicht nach alten Zeiten zurück. «Klar», sagt sie, «als freie Journalistin ist es zuweilen wirklich hart. Nur so kann kaum mehr jemand davon leben.» Dafür passiere aber viel Aufregendes. Es sei spannend, «zu beobachten, wie die alten Monopole und Machtverhältnisse immer stärker wanken.» Freude bereiten ihr Medien wie «Tsüri» und «Bajour», die «intelligente und witzige Stories und Videos zu relevanten Themen posten».

Welches Medium darf bei Dir zum Frühstück nie fehlen?

Ich würde jetzt gerne schreiben, dass ich morgens jeweils im Kerzenschein und mit einem Oatly-Barista-Cappuciono Zeitungen im Weltformat lese und mich vom sanften Knistern des Papiers in den Tag tragen lasse. Die Realität ist aber: Brote schmieren, Zähne schrubben, vermasselte Vokabeln-Prüfungen auf den letzten Drücker noch unterschreiben. Was halt so anfällt in einem Haushalt mit Kindern im Alter von drei bis dreizehn Jahren. Das Wichtigste nehme ich aber bei einem kurzen Online-Sprint mit. Früh im Bett, wenn alle noch schlafen. Wenn es hoch kommt, schaffe ich auch die Newsletter etwa von der Republik oder das Briefing von Bajour. Trotz knapper Ressourcen gibt es in unserem Haushalt immer viel zu lesen. Da wären «Die Zeit», die NZZ und diverse Magazine wie «Geo», «Mare», «National Geographic», «Reportagen», «Zeit Wissen», «Transhelvetica», «Avenue» und die «NZZ am Sonntag».

Wie hältst Du es mit Facebook, Twitter und Instagram?

Gehört natürlich zum Programm dazu. Seit neuem auch LinkedIn. Wobei, das ist eher zum Netzwerken. Manchmal kommt dieser kurze «Flog einer über das Kukucksnest-Moment», wenn ich die Meldungen und Updates auf Insta, Facebook und Twitter doppelt lese. Aber alles in allem bin ich sehr dankbar um die sozialen Medien. Wobei für mich der Fokus wirklich auf sozial liegt. Als berufstätige Mutter schaffe ich es kaum je an einen Stammtisch. Nach all den Jahren kann ich auch sagen: Es sind sogar wirklich innige und reale Freundschaften dank dieser Plattformen entstanden.

Wie hat das Corona-Virus Deinen medialen Alltag verändert?

Ich schaue viel öfters in die News. Checke kurz nach Mittag intuitiv die neuen Fallzahlen, auch wenn ich mich jedes Mal danach wieder selber schelte. Während des Lockdowns nahm das zeitweise auch ungesunde Formen an. Ich verwechselte übermässigen Medienkonsum mit Wachsamkeit. Irgendwann kippte aber auch die Berichterstattung ins Absurde. Etwa, als ein grosses Medienhaus in Zürich einen Livestream am Gotthard schaltete, um «verbotene Touristen» auszuspionieren. Da kam der Punkt, wo ich dann für mich entschieden habe: Einmal pro Tag News. Zum Beispiel aus direkten Quellen wie den Pressekonferenzen und Medienmittelungen des Bundes oder dem 19-Uhr-Newsletter der Republik.

Wenn Du an die Medien in der Schweiz denkst – war früher alles besser oder schlechter?

Schwierig zu sagen. Als ich in meinen Zwanzigern bei Tamedia angefangen habe, da gab es diese Geschichten. Von den goldenen Zeiten. Mit Spesenquittungen, so hoch wie das Glashaus. Ja, sogar ein eigener Reporter-Helikopter mit Videokamera auf dem Dach sei mal angedacht gewesen. Man hörte aber auch vom Filz. Verstrickungen von Politik und Journalismus, wie sie heute nicht mehr möglich wären. Gerade bei Professionalisierung in der Ausbildung der Journalist*Innen ist in den letzten zwanzig Jahren viel gegangen. Klar, als freie Journalistin ist es zuweilen wirklich hart. Nur so kann kaum mehr jemand davon leben. Dafür passiert aber auch viel Aufregendes. Und es hat tatsächlich etwas für sich, zu beobachten, wie die alten Monopole und Machtverhältnisse immer stärker wanken. Und sich irgendwann ganz neu formieren werden. Vielleicht schon schneller als gedacht?

Haben geschriebene Worte noch Zukunft?

Was für eine Frage! Natürlich. Immer. Ein Leben ohne Sprache, ohne Ausdruck, das wäre das Ende.

Was muss man unbedingt gelesen haben?

Alles, was einen ruft. Neben meiner normalen Biografie habe ich auch so etwas wie «eine persönliche Büchergeschichte». Die prägt und formt mich. Die schlimmsten Momente in meinem Leben waren die, in denen ich den Zugang zum Lesen nicht mehr gefunden habe. Lesen macht mich, ebenso wie Schreiben, vollständig.

Kannst Du schlechte Bücher weglegen oder musst Du Bücher zu Ende lesen?

Wenn mich ein Buch nicht packt, dann habe ich gar keine Skrupel es nicht fertig zu lesen. Es muss noch nicht einmal schlecht sein. Manchmal bin ich auch zu ungeduldig. Oder nicht in der richtigen Stimmung für das Thema oder den Sound. Dann lege ich es weg. Und irgendwann begegne ich ihm vielleicht wieder. Es gibt aber auch Bücher, die sind wie Liebe auf den ersten Blick. «1000 Serpentinen Angst» von Olivia Wenzel war etwa so eines. Das ging direkt ins Herz. Und hallte noch Tage und Wochen nach. Letztendlich sind es solche Bücher, die einen immer wieder zum Weiterlesen zwingen. Weil man nie weiss, wo sich wieder eines findet.

Wo erfährst Du Dinge, von denen Du nicht gewusst hast, dass sie Dich interessieren?

Zuerst wollte ich sagen: Im Internet. Dann: Bei meinen Kindern. Aber beides ist nicht ganz korrekt. Ich glaube, es ist so, dass ich mich über die Beziehung zu Menschen für Dinge interessiere. Wenn jetzt zum Beispiel eine alte Freundin mit selbstgenähten Kostümen für Reality-Games tagelang im Wald lebt und total begeistert davon ist, dann packt mich das ebenso.

Wie lange gibt es noch gedruckte Tageszeitungen?

Noch lange. Vielleicht dann halt eher als High-End-Premium-Liebhaber Modell auf recyclebaren Naturfaserpapier gedruckt, das aus alten T-Shirts gemacht wird. Mit einer dezenten Zitronenmelisse-Bambus-Note und einer hippen retro Serifen-Schrift.

Sind Fake News eine Gefahr – oder eine Chance für die Medien?

Ich denke, Fake News sind kein Phänomen der Neuzeit. Intrigen wurden schon immer geschmiedet. Unsinn verbreitet. Klatsch und Tratsch. Daher sehe ich sie auch als Chance. Solide Faktenchecks sind sehr gute Argumentationsmittel, wenn ich irgendwo mal in eine strube Diskussion auf Facebook reinlaufe. Dann muss man das Rad nicht in jedem Beitrag neu erfinden.

Wie hältst Du es mit linearem (live) Radio und Fernsehen?

Ich bin ohne Fernseher aufgewachsen und war eines der Kinder, die dann immer gebannt bei den Nachbarn vor der Kiste sassen. Letztendlich hat sich das aber nicht durchgesetzt. Ich würde aber nur schon für hochwertige Sendungen wie «10 vor 10» oder den «Kulturplatz» Gebühren bezahlen. Anders sieht es beim Radio aus. Das gehörte schon immer dazu und ist für mich, so kitschig das klingt, gleichbedeutend mit Zuhause sein.

Hörst Du Podcasts? Hast Du einen Lieblingspodcast?

Ich höre gerne auf dem Weg zur Arbeit Podcasts. Meine liebsten sind: «SWR 2 Wissen»«Radio Wissen» vom Bayerischen Rundfunk und «Kontext», sowie «Input» von SRF. Grossartig ist aber auch das Projekt «Tisch frei» bei dem spannende Persönlichkeiten mit den beiden Moderatoren ein Restaurant besuchen. Und natürlich liebe ich alle Arten von Features und Hörspielen. Das ist wohl ein Erbe meiner «Kassetten-Jugend» die ich mit Edgar Wallace, Sherlock Homles und den «Drei ???» verbracht habe.

Was bedeutet es für die Medien (und die Gesellschaft), dass laut fög 56 % der 16- bis 29-Jährigen zu den News-Deprivierten gehört?

Ich höre das immer wieder. In unserem Umfeld und bei meinen Kindern und ihren Freunden beobachte ich aber ein sehr breites Allgemeinwissen. Auch wenn ich früher gerne mal die Nase gerümpft habe über die Gratisblätter, so bin ich doch froh, wenn meine Söhne lesen. Ich glaube, man könnte die Jungen mit einem guten Angebot à la Gratisboxen im öffentlichen Raum gut erreichen. Und klar, alles andere läuft über Tiktok, Insta und so. Da bereiten mir Medien wie «Tsüri» und «Bajour» Freude, die intelligente und witzige Stories und Videos zu relevanten Themen posten. Coole Gifs inklusive.

Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden. Lässt sich Journalismus automatisieren?

Nein.

Führt die Digitalisierung zum Tod der Medien oder im Gegenteil zur Befreiung des Journalismus?

Weder noch. Sie führt die Medien einfach auf die nächste Stufe.

Siehst Du für professionellen Journalismus noch eine Zukunft?

Ja.

Schreibst Du manchmal noch von Hand?

Gezwungenermassen bei Interviews, weil ich kein Gerät zwischen mir und den Leuten mag. Allerdings muss ich sie dann schnell abtippen, sonst kann ich meine Klaue nicht mehr lesen.

Ist Donald Trump gut oder schlecht für die Medien?

Er fördert nicht unbedingt die brillantesten Entwicklungen.

Wem glaubst Du?

Allen, die sich immer wieder selbst hinterfragen.

Dein letztes Wort?

Es ist jetzt 23.53. Gute Nacht!

Seraina Kobler
Seraina Kobler ist Journalistin und Autorin. Nach dem Studium arbeitete sie als Redakteurin bei verschiedenen Tages- und Wochenzeitungen. Im Inland-Ressort der «Neuen Zürcher Zeitung» war sie für gesellschaftliche Fragen zuständig, bevor sie sich mit einem eigenen Schreibatelier in der Zürcher Altstadt selbstständig gemacht hat. Sie ist Mutter von vier Kindern und Trägerin des Essay-Preises 2020 der Zeitung «Der Bund». Soeben ist ihr Romandebüt Regenschatten erschienen.
https://www.serainakobler.com/
https://fedara.me/

Regenschatten

In ihrem ersten Roman erzählt Seraina Kobler von einer düsteren Welt, die sich doch kaum von der unseren unterscheidet. Nach einer schweren Dürre hat der Wald bei Zürich gebrannt. Unter dem Boden glimmt und glüht es noch immer. In einem evakuierten Wohnhaus am Zürichberg, mitten in der Sperrzone, versteckt sich Anna. Sie wollte mit David zusammenleben. Doch dann hat sie gemerkt, dass sie schwanger ist – und dass das Kind nicht von ihm sein kann. Als David plötzlich verschwindet, ist Anna auf sich allein gestellt, in einer Welt, die völlig aus den Fugen geraten ist. Während draussen brennende Vögel vom Himmel fallen und Staubstürme durchs Land wirbeln, muss sie sich entscheiden, ob ihr Kind leben oder sterben soll.

Seraina Kobler: Regenschatten. Kommode Verlag, 176 Seiten, 26.90 Franken; ISBN 978-3-9525014-6-7

https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783952501467

Zurück
Zurück

«Die Hitze steigert sich und man liest den Roman fast atemlos»